10.05.2025

Taiwan Today

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Am Anfang war das Ei

01.03.2003
Kuanyin auf einem Lotussitz (1997). Gänseei, 6 x 6 x 10 cm.

Mit ihrer perfekten Form und ihrer Fähigkeit, Leben in die Welt zu bringen, sind Eier seit langem Objekt von Mythen und Legenden. Der Eierschalen-Schnitzkünstler Chien Chang-shun hat aus den nahrhaften Ovalen wundervolle Kunstwerke geschaffen, die eine zierliche Miniaturwelt präsentieren.

Nach einer alten chinesischen Legende entwickelte sich die Welt, wie wir sie heute kennen, aus einem eierförmigen Gebilde. Seit undenklichen Zeiten symbolisiert das Ei den Ursprung aller Dinge. Und wie der legendäre Pan Gu(盤古), der in dem chinesischen Schöpfungsmythos den Himmel und die Erde voneinander trennte, so hat der Schnitzkünstler Chien Chang-shun(簡長順) eine ganze Welt aus der gewölbten Zartheit der Eierschale erschaffen. “Ein gewöhnliches Ei in ein Kunstwerk zu verwandeln, besitzt schon ein wenig Erhabenheit und Rätselhaftigkeit”, philosophiert er.

Die vielleicht außergewöhnlichste Eigenschaft von Chiens Werken ist deren geringe Größe. Für das Schnitzen von Eierschalen braucht man eine unfehlbar ruhige Hand und sehr feine Werkzeuge. Seine Pinsel, Messer und Meißel -- die Werkzeuge seines Handwerks -- erinnern an die Miniaturausgabe der Ausrüstung eines Steinmetzes.

Chien praktiziert seine Kunst in seiner Heimat bei Lukang, einer kleinen Stadt im Landkreis Changhua, die Ende des 18. Jahrhunderts eine Blüte als eines der größten Handelszentren des zeitgenössischen Asien erlebte. Lukang kann auf eine lange Tradition von Kunsthandwerk zurückblicken, und auch heute sind dort noch viele traditionelle Werkstätten in Betrieb, die sich auf die Herstellung von Holzmöbeln, Zinnarbeiten, Laternen, Fächern und Räucherwerk spezialisiert haben. Die meisten dieser Handwerke kamen mit den Einwanderern aus Südostchina während der Blütezeit der Hafenstadt auf die Insel.

Auch filigrane Schnitzereien können in China auf eine lange Geschichte zurückblicken. “Die Chinesen haben die Fähigkeit entwickelt, auf Holz, Stein, Jade und sogar auf Reiskörnern oder Haaren zu schnitzen”, erzählt Chien, der diese Tradition einer neuen Richtung zuführte. “In der chinesischen Geschichte war die Eierschale als Schnitzmaterial dagegen unbekannt.” Doch mittlerweile kratzt man auch auf dem Festland an Eierschalen herum, und zum Austausch mit Künstlerkollegen reiste Chien nach China und besuchte mehrere Künstler, war nach Begutachtung ihrer Versuche aber nicht beeindruckt. “Selbst ein Anfänger, der von mir die grundlegendsten Fertigkeiten erlernt hat, kann bessere Dinge zu Stande bringen als die da drüben”, kommentiert der Eierschalen-Schnitzmeister verächtlich. “Sie praktizieren nur einfaches Schnitzen an der Oberfläche. Zwar geht es bei ihnen manchmal um feine Konturen wie bei der traditionellen chinesischen Malerei, aber es besteht trotzdem ein großer Kontrast zu meinen Arbeiten.”

Chiens Handwerkskunst zeitigt sicherlich feine Ergebnisse, aber alles fängt mit einigen praktischen Vorbereitungen an -- beispielsweise muss man zuerst das klebrige Eigelb und Eiweiß aus der Schale bekommen. Dazu sticht Chien ein kleines Loch in die Unterseite des Eis und führt eine kleine Injektionspumpe ein, mit der er den Inhalt heraussaugen kann. Manchmal wendet er auch die alte und bewährte Methode an, bei der man an beiden Enden des Eis ein kleines Loch sticht und dann den zähen Inhalt mit gespitzten Lippen hinausbläst. “Dabei muss die Haut direkt unter der Schale unbedingt durchbohrt werden, sonst hat man hinterher das ganze Eiweiß und Eigelb im Gesicht.”

Soweit das Albumen aus dem Inneren des Eis ausgetrieben ist und nur noch die leere Schale übrig ist, führt Chien eine kleine Bürste zum Säubern in das leere Ei ein, und auch die äußere Oberfläche wird von Schmutz und Eierresten gereinigt. Anschließend lässt Chien die Schale einen halben Monat lang im Schatten trocknen, wobei die Kalkschale und die Haut im Inneren sich miteinander verbinden, so dass die Oberfläche zum Schnitzen und Bemalen stabiler ist.

Durch seinen ständigen Umgang mit Eierschalen wurde Chien fast zwangsläufig zu einem Eierexperten. Er kauft sie auf örtlichen Märkten, wo er sie Stück für Stück sorgfältig prüft und dann nur ein paar der besten Exemplare für sich auswählt. Er bevorzugt Eier, die von Hennen “mittleren Alters” -- also 12 bis 18 Monate alt -- gelegt wurden. Diese Eier sind laut Chien von einer reifen Größe, sehen wie Wassertropfen aus, fühlen sich glatt an und haben obendrein eine gleichmäßige Textur. “Eier von älteren Hennen haben oft eine rauere Oberfläche und neigen eher zu abnormalen Formen”, weiß Chien. Er verwendet aber auch solche ungewöhnlich geformten Eier, aus denen er alternative Kreationen macht, etwa einen Zier-Teekessel.

Chien beschränkt sich freilich nicht nur auf Hühnereier, sondern schnitzt auch Meisterwerke aus den Eiern von Truthennen, Enten, Gänsen und Straußen, die alle unterschiedliche Texturen besitzen. Straußeneier beispielsweise sind viel größer und haben dickere Schalen. Durch seine Arbeit als Eierschalenschnitzer ist Chien nicht nur mit den Eiern vertraut, sondern kennt auch die Leute, welche sie verkaufen. “Viele Eierhändler sind gute Freunde von mir”, berichtet er. “Und ich kenne fast alle Besitzer von Straußen in Taiwan.”

Zwar gibt es in der chinesischen Kunstgeschichte diese Kunstform nicht, aber Chien weist darauf hin, dass es in westlichen Ländern dafür die Sitte des Färbens und Schmückens von Eiern gibt, besonders zum Osterfest. Doch bekanntlich beschränkt sich diese Tradition lediglich auf die Oberfläche der Eier, die normalerweise nur von außen bemalt werden. Chien gibt zu, dass seine künstlerische Laufbahn ähnlich begann und er seinerzeit weniger anspruchsvolle Stile der Eierschalenbearbeitung anwandte.

Seine ersten Gehversuche beim “Spielen mit Eiern” ( wan dan,玩蛋) -- gleichlautend mit dem chinesischen Begriff “alles ist aus”(完蛋) -- machte Chien als 25-Jähriger im Jahre 1980. Bei seinen frühen Experimenten machte er Bilder mit zerbrochenen Eierschalen, die eigentlich als Dünger in Blumentöpfen landen sollten. Chien bemalte diese Bruchstücke und klebte sie auf eine Hintergrundfläche, was dann wie ein Mosaik aussah. Doch mit diesen flachen Bildern war er nicht zufrieden, daher begann er mit der Verwendung von ganzen Schalen für dreidimensionale Arbeiten, etwa Pinguinfiguren mit kleinen angeklebten Pappstückchen. Doch auch diese relativ einfachen Versuche konnten Chien auf Dauer nicht befriedigen, und so fing er mit dem Schnitzen von Eierschalen an.

Chien legt Wert auf den Hinweis, dass er die Eierschalen in ihrem natürlichen Zustand bearbeitet, ohne Zugabe chemischer Härtemittel. “Meine feine Handarbeit kommt ohne zusätzliche Bemühungen aus, die spröde Schale zu härten”, verkündet er stolz. Beim Schnitzen von brüchigen Eierschalen braucht man Geduld, Selbstvertrauen und eine ruhige Stimmung, und außerdem muss man Schläfrigkeit überwinden und längere Zeit sitzen können. Ohne eine ruhige Hand kann das Ei beim Schnitzen leicht zerbrechen. “Manche unbemerkte Haarrisse können die Arbeit in einer Sekunde zerstören, sogar wenn man schon fast fertig ist. Nach viel Übung kann ich heute garantieren, dass 80 Prozent meiner Arbeiten bei der Herstellung nicht versehentlich zerbrechen.”

Nach etwa zehn Jahren Experimentieren mit Malen, Oberflächenschnitzen und schließlich allen möglichen Methoden zum Anfertigen von Reliefs direkt in der Eierschale kam Chien zu dem Schluss, dass dies das Hobby seines Lebens sei. Der gelernte Elektriker hat nie eine reguläre künstlerische Ausbildung erhalten, doch seine Arbeiten wie die Miniaturnachbildung einer exquisiten Landschaft, wie man sie auf traditionellen chinesischen Gemälden findet, beeindrucken trotzdem jeden Betrachter. Chien war nach eigenen Worten bereits als Kind für verschiedene Formen künstlerischen Ausdrucks empfänglich, und er schaute immer schon gern anderen Künstlern bei der Arbeit zu. Er erinnert sich, dass er auf dem Heimweg von der Schule fasziniert die großen Schautafeln an Kinos betrachtete. Später besuchte er eine Berufsschule, wo er genauere Vorstellungen von kommerziellem Handwerk bekam, und danach arbeitete er in mehreren Jobs, bei denen er mit Fertigkleidung, Werbung und Autolackieren zu tun hatte. “Die meisten meiner Jobs drehten sich irgendwie um Design”, rekapituliert er. “Diese Arbeitserfahrungen haben mir für meine heutige Tätigkeit ziemlich geholfen.”

Seitdem hat Chien sein Handwerk in eine bemerkenswert feine Kunst verwandelt. Die schwierigste der von ihm angewandten Techniken ist nach seinen Worten das Schnitzen durch die Eierschale, bei der durchbrochene Muster hinterlassen werden sollen. Dabei ist größte Vorsicht geboten, damit die Schale nicht unkontrolliert zerbricht. Bei manchen seiner Stücke geben die in die Schale geschnitzten Löcher den Blick auf eine weitere Eierschalenschicht innen frei. Ein typisches Beispiel für diese Technik ist das “Ei im Ei”, das aufgrund einer natürlichen Anomalie oder eines geheimnisvollen Handwerkstricks gelingt, über den der Künstler sich ausschweigt.

Das herausragendste Stück in Chiens Sammlung besteht aus fünf Schichten geschnitzter Eierschalen und erinnert an den wundersamen geschnitzten Ball aus 19 Elfenbeinschichten, der im Nationalen Palastmuseum in Taipeh zu bewundern ist. Chien hält seine Arbeit aber für noch komplexer als jenen berühmten nationalen Kunstschatz. “Das Verfahren, stabiles Elfenbein zu Schichten zu schnitzen, so dass daraus frei bewegliche Kugeln werden, ist eigentlich recht unkompliziert”, erläutert er in einem erneuten Ausbruch von Handwerkerstolz. “Doch die Arbeit an einer zerbrechlichen hohlen Eierschale, ohne dabei Spuren vom Klopfen und Schneiden zu hinterlassen, erfordert etwas, das die Vorstellungskraft der meisten Menschen übersteigt.”

Auch wenn die Eierschalen-Schnitzereien dieses Kunst-Pioniers noch nicht durch Aufnahme in die Sammlung des Nationalen Palastmuseums geehrt wurden, so hat Chien doch bereits Anerkennung gefunden. Seit er sich 1991 in die Volks-Kunsthandwerksszene in Lukang einführte, wurde er einige Male zum Vorzeigen seiner Werke auf Kunstausstellungen auf der ganzen Insel gebeten, und er hat das Handwerk an Oberschulen in der Nähe seines Heimatortes unterrichtet. Im Jahre 2000 wurde ein Eierkunst-Museum, das erste seiner Art in diesem Land, an einer Freizeit-Hühnerfarm im nordtaiwanischen Kreis Hsinchu eröffnet, und es zeigt eine Sammlung von Chiens Werken.

Übrigens ist der Künstler längst zu einem gefräßigen Eier-Esser geworden, denn das Material seiner künstlerischen Arbeit versorgt ihn reichlich mit dem nahrhaften Lebensmittel.

(Deutsch von Tilman Aretz)

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